Zusammengerechnet mehr als 400 Jahre Haft müssen die 51 Angeklagten im Vergewaltigungsprozess von Avignon nach Willen des Gerichts für den massenhaften Missbrauch von Gisèle Pelicot absitzen. Die Höchststrafe von 20 Jahren erteilte der Vorsitzende Richter, Roger Atara, nur für den Hauptangeklagten, Pelicots Ex-Mann. Fast zehn Jahre lang hatte dieser seine damalige Frau immer wieder mit Medikamenten betäubt, missbraucht und Fremden zur Vergewaltigung angeboten. Insgesamt blieb das Gericht mit seinem Urteil deutlich unter den Forderungen der Staatsanwaltschaft zurück.
Die 50 Mitangeklagten verurteilte das Gericht zu Haftstrafen zwischen 3 und 15 Jahren, zumeist wegen Vergewaltigung, teils nur wegen sexueller Gewalt oder versuchter Vergewaltigung. Den von vielen erhofften Freispruch erteilte das Gericht keinem. Die Angeklagten hielten ihre Köpfe beim Urteil gesenkt, einer brach in Tränen aus, wie die wenigen zugelassenen Journalisten aus dem Gerichtssaal berichteten. Vor dem Gebäude skandierten Aktivistinnen «Schande über die Justiz!» Gisèle Pelicot sagte zum Strafmaß lediglich, dass sie das Urteil respektiere. Rechtskräftig ist das Urteil noch nicht, Berufung ist möglich.
Etwa 200 Vergewaltigungen glaubt Gisèle Pelicot durch das erschütternde Treiben ihres früheren Partners erlitten zu haben. Die Ermittler gehen davon aus, dass noch ein Dutzend weitere Männer an den Taten, die Dominique Pelicot auf Hunderten Fotos und Videos festhielt, beteiligt waren. Identifiziert werden konnten sie aber nicht.
Der Ex-Mann hatte vor Gericht gestanden, sich als sexsüchtig und pervers bezeichnet. Er habe sich eine emanzipierte Frau unterwerfen wollen, gab er an. Als besonders gewalttätig sehe er, der die massenhafte Vergewaltigung seiner Frau orchestrierte und zu diesem Zwecke im Internet Bekanntschaften schloss, sich aber nicht.
Der Prozess um die Gräueltaten war geprägt von verächtlichen Aussagen und Uneinsichtigkeit – wenn etwa Angeklagte angaben: «Ich habe gegen meinen Willen vergewaltigt» oder sich zu der entschuldigend gemeinten Aussage verstiegen: «Ich hatte einen Penis dort, wo das Gehirn hingehört.» Viele erkannten zwar an, Gisèle Pelicot ohne deren Einwilligung penetriert zu haben. Eine Vergewaltigung wollten etliche darin aber dennoch nicht sehen. So ist es auch kaum verwunderlich, dass mehr als die Hälfte der Angeklagten über ihre Anwälte einen Freispruch gefordert hatte. Gisèle Pelicot nannte das Verfahren den «Prozess der Feigheit». Er sei für sie ein «schmerzhafter Weg» gewesen.
Die Rechtssoziologin Irène Théry weist dazu auf den Begriff der «Opportunitätsvergewaltigung» hin. Vergewaltigungen fänden häufig dann statt, wenn sich eine Möglichkeit dazu ergebe, sagte sie im Magazin «Le Nouvel Obs». «Diese Opportunitätsvergewaltigung ist in einer noch immer tief verankerten chauvinistischen Sichtweise begleitet von einem Gefühl der Unschuld („Ich habe nicht vergewaltigt“) und der Straffreiheit („Mir wird nichts geschehen“).»
Das Verfahren zeigt aber auch den Kampf einer Frau, die nicht für immer Opfer bleiben will. Anwalt Stéphane Babonneau erzählte von Pelicots Scham darüber, eine vergewaltigte Frau, ein «ewiges Opfer», ein Objekt des Mitleids geworden zu sein. Um anderen missbrauchten Frauen Mut zu machen, entschied die Anfang-Siebzigjährige, den Prozess nicht hinter verschlossenen Türen zu führen. «Ich will, dass sie keine Schande mehr verspüren. Nicht wir sollten uns schämen, sondern sie», sagte sie vor Gericht.
Wie groß die Aufmerksamkeit für ihr entschiedenes Auftreten sein würde, sah Pelicot, die längst als feministische Ikone gefeiert wird, nicht kommen. Sie sei mittlerweile auf der ganzen Welt bekannt. Beim Namen Pelicot denke man vor allem an sie, sagte die Seniorin vor Gericht. Sie wolle, dass ihre Kinder den Namen ohne Schande tragen könnten. Nach dem Urteil betonte sie, nicht zu bereuen, den Prozess offen geführt zu haben.
Noch vor dem Urteilsspruch hielten die Anwälte von Madame Pelicot in ihrem zutiefst politischen Plädoyer fest, dass Prozess und Urteil Teil des Testaments seien, das man an die kommenden Generationen übergebe. Und tatsächlich ist das Verfahren bereits jetzt historisch und könnte Frankreich mit Nachhall erschüttert haben. Wegen der politischen Krise im Land herrscht zwar aktuell weitestgehend Stillstand im Parlament, doch Änderungen im Strafrecht sind angeregt, um festzuschreiben, dass in sexuelle Handlungen explizit eingewilligt werden muss – auch wegen des Verfahrens in Avignon.
Einzelne Politikerinnen und Politiker wohnten dem Prozess auch selbst bei. Doch noch ist unklar, wie Frankreich künftig gegen das Problem der sogenannten «chemischen Unterwerfung», also der böswilligen Betäubung mit Medikamenten oder Drogen, vorgehen will. Dominique Pelicot besorgte sich nicht etwa über das Darknet Drogen, um seine Frau zu betäuben. Alle paar Monate kaufte er die Schlafmittel auf Rezept.
Nebenklageanwalt Antoine Camus mahnte, seit Jahren sei das Problem bekannt, vor allem durch K.-o.-Tropfen in der Clubszene. Doch 99 Prozent der Opfer fehlten schlicht die Beweise. Seine Mandantin Pelicot sei die Ausnahme. «Ohne diese Videos ist es wahrscheinlich, dass diese Misshandlung Gisèles angedauert hätte, bis dies sie umgebracht hätte.»
«Ich habe heute Vertrauen in unsere Fähigkeit, gemeinsam eine Zukunft in die Hand zu nehmen, in der jeder, Frau und Mann, in Harmonie, mit Respekt und in gegenseitigem Verständnis leben kann», sagte Gisèle sichtbar ergriffen nach den Schuldsprüchen. Das Verfahren um den massenhaften Missbrauch von Gisèle Pelicot findet mit dem Urteil nun ein Ende. Doch die gesellschaftliche Aufarbeitung des Falls hat gerade erst begonnen.
Quelle: dpa